Orientierung Ausgabe 3/2008

Cover Ausgabe 3/2008Editorial und Leseprobe

 

Orientierung 3/08 Achtsamkeit

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Baumarbeiten" – ein Schild auf dem Weg zur täglichen Arbeit. Ein Hinweis für Verkehrsteilnehmer, achtsam zu sein. Achtsam auf am Boden liegende Äste, auf Ablenkungen, auf Arbeitsbühnen die motorsägende Fachleute in die Wipfel heben.

Aber auch der Blick auf die Männer in den Wipfeln signalisiert Achtsamkeit: Sie sind so ausgestattet, dass möglichst nichts passieren kann: Kopf-, Gesichts- und Ohrschutz, mit Gurten gesichert. „Baumarbeiten" – eine achtsame Tätigkeit.

Man kommt ins Nachdenken. Müsste nicht einen Kilometer weiter, am Eingang der eigenen Arbeitsstelle, einer sog. „Komplexeinrichtung" auch so ein Schild stehen? „Menschenarbeiten"? Als Hinweis auf die nötige Achtsamkeit, die hier betrieben wird? Achtsamkeit bei der Begleitung von Menschen, die wir „behindert" nennen?

Baumarbeiten„Achtsamkeit" - das ist unser Heftthema. Nicht eine neue Arbeitsmoral. Auch kein neuer Verhaltenskodex. Nein, das Thema ist anspruchsvoller! „Take Care - Ethik der Achtsamkeit" nennt Elisabeth Conradi diese Grundlage unserer Arbeit. Und fordert, dass Achtsamkeit zu einem Teil der professionellen Rolle wird. „Entgegen konventioneller Vorstellungen geht es bei Care nicht um Selbstaufopferung, sondern darum, die Sorge für andere und die Selbstsorge in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen." meint Ulrich Niehoff in seinem Artikel „Ethik der Achtsamkeit".

Wird wieder einmal eine neue Sau durchs Dorf getrieben, diesmal die „Sau Achtsamkeit"?

Oder: „Das machen wir doch schon immer so!" Alter Wein in neuen Schläuchen?

Oder doch ein wichtiges Signal für Haltungen, die wir im Alltag oft so leicht vergessen?

Lesen Sie selbst!

Ihre

Martin Herrlich / Friedrich Fabiz

Übrigens: Wir haben uns diesmal bemüht, im Heft achtsam mit Ihnen als Leserin und Leser umzugehen: Viel Ruhe fürs Auge, Bilder, die zum Verweilen locken, wenig Wüsten aus Blei. Achtsam eben.


 

Die Höflichkeit ist im mittelmäßigen Bereich

Wie achtsam und respektvoll begegnen Ihnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Meggy Kartenstein befragt Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener badischer Einrichtungen der Behindertenhilfe.

  • Ja, die geben schon Acht.
  • Naja. Man denkt, man ist in der Steinzeit.
  • Mal sagen sie dies, mal sagen sie jenes…
  • Eine gibt's, das ist eine blöde Schnepfe, die macht mich immer nach. - Nicht nur Dich.
  • Zu mir haben mal zwei Mitarbeiterinnen „Du alte Schlampe" gesagt.
  • Immer behaupten sie etwas.
  • Bei uns sind sie fröhlich.
  • Ich fühle mich höflich und respektvoll behandelt - nur sind's zu wenig.
  • Alle sind spitze.
  • Alle sind doof.
  • Sie haben zuviel zu tun. - Wenn sie zuviel zu tun haben sind sie nicht mehr so freundlich.
  • Alte Schachtel.
  • Eigentlich geht's ja hier um uns. - Echt?
  • Mir drohen sie mit der Psychiatrie.
  • Die hacken auf uns rum.
  • Es gibt aber auch schlimme Bewohner.
  • Es gibt da große Unterschiede. - Die meisten haben sehr viel Respekt.
  • Die Höflichkeit ist im mittelmäßigen Bereich. - Ich habe aber auch nicht so viel Höflichkeit.
  • Sie sind immer hilfsbereit und höflich. - Bei mir auch.
  • Ich hatte mal einen Anfall auf der Toilette, da kam gleich jemand.
  • Wir fühlen uns eher von den Bewohnern gestört.
  • Mit der einen kann ich nicht so gut, die macht mich nach.
  • Sie sind höflich. - Und auch freundlich. - Manchmal und öfters.
  • Sie erfüllen nicht immer unsere Wünsche.
  • Einer geht sogar freiwillig mit uns zum Fußball mit seinem privaten Bus.
  • Sie sind sehr korrekt.
  • Immer muss ich den Tisch decken, dagegen sollte man was unternehmen. - Wenn ich abends den Tisch decke, könnt mir ruhig einer helfen.
  • Sie schimpfen.
  • Einer ist am Wochenende freundlich.
  • Irgendwann zischen sie ab.
  • Wir würden gerne alleine frühstücken. - Wir würden gerne ohne Stress frühstücken.
  • Wir beraten uns gegenseitig, wie man mit ihnen umgeht.
  • Wir wollen Gruppengespräche.
  • Sie hocken gerne im Dienstzimmer. - Da schreiben sie aber auch was.
  • Eine gibt's, die droht gerne.
  • Man kann nie ausschlafen. - Sie schmeißen einen aus dem Bett. - Man muss früh aufstehen.
  • Mitarbeiter sitzen viel am PC.
  • Wir sitzen immer alleine am Tisch.
  • Man kriegt blöde Bemerkungen zu hören.
  • Manchmal wird gedroht.
  • Sie haben eine große Gosch.
  • Verbote, strafen und Erpressung.
  • Die meisten gehen sehr respektvoll mit uns um. - Das ist sehr schön.
  • Sie nehmen sich Zeit und hören auch zu.
  • Mir fehlt schon lange eine Badehose, die ist einfach weg.
  • Man kann nichts sagen, sie sind nett und helfen einem. - Aber nicht jedem.
  • Einer ist immer schlecht drauf.
  • Sie sind nett, sie gehen mit mir einkaufen und zwar Hustenbonbons.
  • Es sind nette Leute.
  • Die Putzfrau wirft persönliche Dinge einfach weg - das finde ich nicht achtsam.
  • Ich find's nicht gut, dass sie hintenrum mit meinen Angehörigen telefonieren.
  • Sie üben Druck aus.
  • Ich bin sehr zufrieden.
  • Manche sind sehr nett.
  • Die eine macht ein Gesicht, dass ich grad Angst bekomme.
  • Alle sind freundlich.
  • Bei uns fällt die Freizeit aus, weil die Mitarbeiter Überstunden abfeiern.
  • Es fehlen Mitarbeiter.
  • Eine hat mich geschlagen.
  • Wenn ich frech bin, habe ich Gruppenverbot.
  • Man weiß es nie so ganz genau, wie sie drauf sind.
  • Ich habe kein Problem mit den Mitarbeitern, manchmal gibt's Stress, aber das legt sich.
  • Manchmal schreien auch die Bewohner. - Das kommt bei uns auch vor. - Es ist ein lauter Umgangston. - Ich geh halt auch gerne an die Decke
  • Wenn ein Mitarbeiter mich anschreit, bin ich beleidigt.
  • Manchmal wird man angeschnauzt.
  • Ich bin sehr zufrieden
  • Meine Bezugspersonen sind nett.
  • Ich kann nicht groß klagen.
  • Früher war's besser. - Alles war besser früher.
  • Früher war's viel schlimmer.
  • Die sind gar nicht so schlecht.

 


Achtsamkeit?

 

Elisabeth Conradi nähert sich dem Thema Achtsamkeit von verschiedenen Seiten: Im Mittelpunkt steht die Achtsamkeit als Schlüsselbegriff einer Ethik helfender Berufe. Es handelt sich um eine philosophische Ethik. Aber sie kann von Deutungen des jüdischen Liebesgebotes und der christlichen Nächstenliebe lernen.

Christliche und jüdische Deutungen der Nächstenliebe

Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland Bischof Wolfgang Huber hat in seiner Osterpredigt 2008 zu mehr Achtsamkeit der Menschen im Umgang miteinander aufgerufen. Der Glaube an den unsichtbaren Gott, so Huber, gehört zusammen mit der Achtsamkeit für den sichtbaren Nächsten. Achtsamkeit bedeutet "ein Umgang miteinander, in dem sich die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst spiegelt."[1] Durch Achtsamkeit werden Menschen zusammengebracht und beieinander gehalten, Gemeinschaftlichkeit und Miteinander gepflegt und erhalten. Huber ruft aber auch zu mehr Verantwortung im nachbarschaftlichen Alltag auf. Wenn Kinder vernachlässigt oder Fremde verächtlich gemacht werden, müssen wir aufstehen, sagt Huber.

"Liebe deinen Nächsten!" heißt es im dritten Buch Mose 19,18. Entsprechend hat die jüdische Tradition auch ein ausgeprägtes Verständnis von Tätigkeiten, die dem Liebesgebot entsprechen. Gemeint ist damit einerseits Wohltätigkeit, z.B. in Form von Krankenbesuchen, der Unterstützung von Armen und dem Trost von Trauernden, und andererseits die Friedensstiftung.

Den Nächsten lieben, wie sich selbst, die Eigenliebe als Maßstab der Nächstenliebe, was kann das bedeuten? Die Bibelwissenschaftlerin Nechama Leibowitz verweist auf den Kommentar des Rabbi Moses Ben Nachman, der auch Ramban genannt wird. Er hebt besonders den Charakter, nicht das Ausmaß der Liebe hervor: "Die Qualität und die Natur unserer Liebe muss von der höchsten Kategorie sein – parallel zu jener, die wir verwenden, um unser eigenes Wohlergehen zu fördern." Wir sind dazu aufgerufen, so der Ramban, das Wohlergehen unseres Nächsten zu fördern, wie unser eigenes. Dies sollen wir tun, solange diese Liebe nicht unsere eigenen berechtigten Interessen hindert.

Nechama Leibowitz erwähnt auch noch einen anderen Kommentar, den Biur, der sich in der Bibelübersetzung von Moses Mendelssohn vor über zweihundert Jahren findet. Hier wird eine andere Deutung vorgeschlagen: "Liebe deinen Nächsten, der wie du ist." Diese Deutung der zweiten Hälfte des Satzes wurde später auch von Martin Buber aufgegriffen.[2] Sie gibt "das motivierende Prinzip" an und beschreibt weniger den "Grad der Liebe": Liebe deinen Nächsten, denn er ist ein menschliches Wesen, so wie du selbst.

Eine andere Deutung schlägt die Pflegewissenschaftlerin Silvia Käppeli vor. In ihrem Buch "Vom Glaubenswerk zur Pflegewissenschaft" geht sie von drei Voraussetzungen aus: Kranksein bedeutet Leiden, der Gott der hebräischen und griechischen Bibel leidet mit den bedürftigen Menschen und die Bibel gibt den Auftrag, Gottes Liebestätigkeit nachzuahmen. Käppeli schlägt vor, die mit-leidende zugewandte Pflege (compassionate caring) als wesentlichen Teil des Berufs anzusehen. Sie möchte die Nachahmung der Liebestätigkeit Gottes durch Pflegekräfte wieder stärker in den Vordergrund zu rücken.[3] Für Käppeli bedeutet caring "eine in Liebe ausgeübte Pflege, die Selbstaufopferung einschließt."[4]

Im Unterschied zu Käppeli gehe ich jedoch nicht von einem leidenden und einem helfenden Menschen aus und stelle deshalb nicht das Mit-leiden, sondern die Achtsamkeit in den Vordergrund. Achtsamkeit wiederum ist nicht mit Selbstaufopferung zu verwechseln. Denn achtsame Zuwendung darf sich keinesfalls bloß auf andere richten. Gerade Menschen, die viel für Andere sorgen, müssen auf sich und ihre Bedürfnisse achten. In einer Ethik der Achtsamkeit gehören die Sorge für Andere und die Selbstsorge zusammen. Im besten Fall sind Selbstsorge und die Sorge für Andere ausgewogen.

Eine philosophische Ethik der Achtsamkeit

In einer philosophischen Ethik der Achtsamkeit gibt es den Leitspruch "Not to turn away from someone in need". - Zeige einer Person, die Unterstützungsbedarf hat, nicht deinen Rücken, sondern wende dich ihr zu. Zuwenden statt wegsehen lautet also die Devise.

Sich nicht abzuwenden bedeutet für die Psychologin Carol Gilligan, die andere Person nicht zu verlassen.[5] Ihr geht es darum, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, ein Netzwerk des Gespräches und des Kontakts zu festigen. Sie sieht Einsamkeit und Verlassenheit als Problem: Ein Mangel an Kontakt führt zu Gleichgültigkeit.[6]

Die Politikwissenschaftlerin Joan Tronto betont die „tätige Hilfeleistung". Achtsame Zuwendung bedeutet, sich einzulassen auf die Situation und die eigene Aufmerksamkeit mindestens einem (anderen) Menschen zu widmen. Es ist wichtig, Bedürfnisse zu erfüllen. Tronto sieht eine mangelnde Wahrnehmung von Bedürfnissen und vor allem Unaufmerksamkeit als Problem. Sie richtet sich dementsprechend gegen eine übertriebene Form der Selbstbezogenheit.



[1] Huber 2004, S. 13, siehe auch verschiedene Predigten unter www.ekbo.de

[2] Schaller 2001

[3] Käppeli 2004, S. 389f.

[4] Käppeli 2004, S. 29.

[5] Gilligan, 1987, S. 32

[6] Gilligan 1988, S. xviii

 


 

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