Quo vadis Sozialstaat

Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. auf dem Weg der Neupositionierung

Auf seiner Mitgliederversammlung vom 9. bis zum 11. Oktober 2006 in Potsdam beschäftigte sich der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) unter dem Motto „Sozialstaat vor dem Durchbruch - Chancen und Risiken für Menschen mit Behinderung" mit den Entwicklungen der Behindertenhilfe in Deutschland. Dieses Thema nahm bewusst den Spannungsbogen zwischen positiven und negativen Erwartungen auf, die mit den aktuellen und noch zu erwartenden Veränderungen verbunden sind. Drei Hauptredner waren geladen: Karin Evers-Meyer, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Professor Norbert Schwarte vom Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste, Universität Siegen, und Professor Friedhelm Hengsbach S.J., Ökonom und Sozialethiker aus Frankfurt/Main.

„Behindertenpolitik ist Menschenrechtspolitik", diesen Grundsatz der Bundesregierung betonte Frau Evers-Meyer: Die Ziele seien klar definiert: „mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für behinderte Menschen“. Der Weg dorthin sei im Einzelnen nicht abschließend diskutiert. „Die verbindliche Einführung des Persönlichen Budgets Anfang 2008 ist jedoch sicher ein wichtiger Meilenstein." Gleichzeitig äußerte sie: „Ich bin nicht sicher, ob wir darauf vorbereitet sind.“ Der BeB betonte erneut seine positive Grundhaltung zum Persönlichen Budget durch die Annahme des Positionspapiers „Persönliches Budget in der Behindertenhilfe - Eine Zwischenbilanz“ (siehe auch www.beb-ev.de , Rubrik „Fachthemen“). Allerdings sind noch viele Details zu klären. So sollten u.a. Beratungsleistungen bei der Budgeterstellung berücksichtigt werden. Auch könne man nicht für das Budget werben, wenn es stets mit dem Wunsch nach Einsparungen verbunden werde. Der BeB leistet eigene Beiträge bei der Umsetzung des Persönlichen Budgets, z.B. durch eine verbandseigene Bildungsoffensive für Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen, Betreuer und Mitarbeitende in den Einrichtungen.

Die Bundesbehindertenbeauftragte verwies zudem auf die kommende UN-Konvention mit ihren klaren Aussagen zu Sondereinrichtungen: „Zum Beispiel ist dort die Sonderschule als diskriminierend beschrieben.“ Hier sehe sie in Deutschland Handlungsbedarf. Überdies sei nach Einschätzung von Evers-Meyer in der derzeitigen politischen Konstellation ein Bundesteilhabegeld nicht durchzusetzen. Sie wolle aber den nationalen Teilhabeplan weiter entwickeln.

In seinem Beitrag „Perspektivziel Teilhabe - fachliche und verbandliche Herausforderungen“ erklärte Professor Schwarte: „Bürgerrechtliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine gelungene Lebenssituation.“ Man benötige neue Dienste, es gebe eine Entwicklung von unmittelbar zu mittelbar erbrachten Hilfen. „Das Ziel des Umbaus sind Hilfen nach Maß für jeden, nicht Hilfen für jeden nach einheitlichem Leisten. Die funktionale Trennung der Leistungserbringung ist dafür Voraussetzung.“ Um der Entwicklung nicht hinterherzulaufen, sondern sie mitzugestalten, empfahl Schwarte dem BeB ein Doppelprofil als Verband von Sozialunternehmen und Betroffenen-Organisationen. Als einen Schritt auf dem Weg in diese Richtung ist die Verabschiedung der Handreichung „Teilhabe von Menschen mit Behinderung verwirklichen“ zu verstehen. Sie weist den Anspruch von Menschen mit Behinderung: „Nichts über uns ohne uns“ als Maßstab des Handelns im Verband aus.

Professor Hengsbach, auch Leiter des Nell-Breuning-Instituts, sprach in seinem Referat „Sozialstaat in Zeiten der Globalisierung“ von der „Legendenbildung einer alternativlosen Politik“ angesichts der Globalisierung. Jedes Land habe die Möglichkeit über den wirtschaftlichen Reichtum zu entscheiden. Er verwies dabei auf das Sozialsystem in Schweden. Der Sozialstaat müsse nicht abgebaut, sondern reformiert werden. „Der Ausbau des Sozialstaats ist die Voraussetzung einer gerechten Globalisierung.“ Die Politik könne handeln.

In zehn Arbeitsgruppen mit Themen wie „Chancen und Grenzen der Ambulantisierung“, „Menschen mit Behinderung und Angehörige – Formen der Kooperation“ sowie „Entbürokratisierung am Beispiel des Heimrechts“ hatten die Mitglieder die Möglichkeit auch außerhalb des Plenums konkret Stellung zu beziehen. Weitere kritische Themen der Tagung waren die Kommunalisierung der Behindertenhilfe ohne nationale Standards, die zu einer Hilfe „nach Postleitzahl und Kassenlage“ führen könne. Diese Ergebnisse der Föderalismusreform bedeuten einen Rückfall um 30 Jahre in Zeiten vor das Heimgesetz und schaffen einen „Einrichtungstourismus“, so Frau Evers-Meyer. Die Einführung des Nettoprinzips im SGB XII, das der Behindertenhilfe ins Haus steht, bezeichnete Vorsitzender Klaus-Dieter Kottnik als „Hilfeverhinderungsinstrument“.

Neben der inhaltlichen Zukunftsbestimmung des BeB veränderte der Verband sich auch strukturell. Er verschlankte den Vorstand und schuf innerverbandlich eine projektorientierte Arbeitsstruktur mit einem Expertenpool. Die Mitgliederversammlung wählte zudem turnusgemäß einen neuen Vorstand. Sie bestätigte mit überwältigender Mehrheit den Verbandsvorsitzenden Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik, Diakonie Stetten e.V. Gleichzeitig wählte sich der BeB einen neuen Vorstand, dem neben sieben gewählten Mitgliedern ein kooptiertes Mitglied als juristischer Berater und ein Vertreter vom Diakonischen Werk der EKD angehören.

Die Mitglieder sind des neu gewählten Vorstands sind:

Vorsitzender

  • Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik, Diakonie Stetten e.V.

Vorstandsmitglieder

  • Michael Conty, von Bodelschwinghsche Anstalten, Bielefeld
  • Astrid Faber, Mühlhäuser Werkstätten e.V., Mühlhausen
  • Hans Hermann Gerdes, Das Rauhe Haus, Hamburg (stellvertr. Vorsitzender)
  • Katrin Kraetzig, Diakonische Leipziger gGmbH / Diakonie am Thonberg
  • Matthias Kube, Wichern-Wohnstätten und Soziale Dienste gGmbH, Frankfurt/Oder
  • Peter Oertmann-Brandt, Paulinenpflege Winnenden e.V., Winnenden
  • Dr. Ilka Sax-Eckes, Heilpädagogische Einrichtungen kreuznacher diakonie, Meisenheim
  • Klaus-Peter Stenzig, Diakonisches Werk der EKD, Berlin (benannt)
  • Dr. Alexander Vater, Johannes-Anstalten Mosbach (kooptiert).

 

Die Beiträge der Mitgliederversammlung 2006 sind im verbandseigenen Netz (www.bebnet.de  , Rubrik „BeB Dokumentationen“) zum Download bereit gestellt.

 

Thomas Golka, Berlin