Orientierung Heft 2/2024: Tränen

Heftcover

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich bin zu Tränen gerührt, wenn mir Menschen mit ihren Geschichten und Erlebnissen nahekommen. Ein richtig guter Witz schafft es, mir Tränen in die Augen zu treiben. Und auch Glücksmomente, die es vermögen, mich emotional zu überwältigen, öffnen das Ventil, die Augen werden feucht und dann kullern mir Tränen die Wange hinunter. Eine andere Erfahrung ist es, wenn der Fahrtwind auf dem Fahrrad die Augen derart reizt, dass Tränen die Augen schützen.

Wir kennen sie alle: Tränen der Freude und der Trauer, Tränen des Schmerzes und des Glücks, Tränen aus Verzweiflung, aus Dankbarkeit und aus Wut. Tränen sind ein emotionales und biologisches Phänomen. Sie sind eine körperliche Reaktion und längst zur Metapher geworden für dichte Lebenserfahrungen. Es ist aber nicht ausgemacht, wofür die Träne genau steht. Die Tränen bleiben ambivalent. Um sie zu verstehen, braucht es den Kontext. Erst durch den Zusammenhang werden die Tränen von Menschen verständlicher. Sie sind eine Sprache des Körpers und der Seele zugleich: eine Sprache des Mitgefühls. Und mitfühlen kann ich nur, wenn ich hinsehe und hinhöre; wenn ich mich einlasse auf die andere, auf seinen Witz, ihre Wut, seine Trauer oder ihr Glück; mitfühlen kann ich, wenn ich mich einfühle.

Wie wichtig das Einfühlungsvermögen für jede und jeden von uns ist, liegt auf der Hand, wollen wir menschlich bleiben. Wie sehr Einfühlungsvermögen in unserer Gesellschaft nottut, können wir daran erkennen, dass der soziale Zusammenhalt bröckelt und die Hemmschwelle sinkt, Andersdenkenden ohne Respekt und Fairness zu begegnen. Die Ausgrenzung von Menschen anderer Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung ist die Folge von zu wenig Einfühlung und Mitgefühl. Wenn also von Tränen die Rede ist, soll keiner Rührseligkeit das Wort geredet werden. Sehr wohl aber der Offenheit, sich auch öffentlich anrühren zu lassen und Gefühle zu zeigen.

Und doch ist ein Themenschwerpunkt „Tränen“ in einer Fachzeitschrift für Teilhabe nicht unbedingt naheliegend. Obwohl? Die Umsetzung des modernen Teilhaberechts (SGB IX) in den Bundesländern treibt schon Tränen der Enttäuschung und der Verzweiflung in die Augen von Menschen mit Beeinträchtigung, gesetzlichen Betreuern und Verantwortlichen auf allen Seiten, denn mehr Bürokratie statt Teilhabe ist zur Realität geworden. Doch das ist nicht der Fokus dieser Ausgabe. Der Blick geht hinter die sozialpolitischen und sozialrechtlichen Kulissen. Die ORIENTIERUNG lädt dazu ein, Menschen, ihren Gefühlen und Geschichten zu begegnen: Menschen mit Beeinträchtigung, Professionellen, Ehrenamtlichen und Angehörigen. Es wird von dichten Erfahrungen berichtet, die anrühren und zum Nachdenken einladen.

Dieses Tränen-Heft ist noch unter der Federführung des langjährigen Redaktionsleiters Martin Herrlich konzipiert und auf den Weg gebracht worden. Im Zuge seines Abschieds ist ihm von so manchem Mitglied des Redaktionskreises die eine oder andere Träne zugeflossen.Und sicherlich wird zumindest eines seiner beiden Augen auch nicht trocken geblieben sein. So ist ihm diese Ausgabe gewidmet.

Eine anregende und anrührende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr Christian Geyer

Weitere Informationen und Leseproben finden Sie unter www.beb-orientierung.de